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Inkjet – Stand der Technik oder Zukunftsmusik?

Fest etabliert in Nischenmärkten, schickt sich der Inkjetdruck an, auch auf das Terrain der konventionellen Druckmaschinen, wie Offset oder Flexo, vorzudringen. Was hat das Verfahren mittlerweile zu bieten? Und was ist in naher Zukunft – nicht zuletzt auf der drupa 2016 – von ihm zu erwarten? Diese Fragen beleuchtet Sean Smyth (Smithers Pira) in einer umfassenden Bestandsaufnahme.

Inkjet-Düse
„Wird jetzt noch die Tinte bezahlbarer, gehört dem Inkjetdruck klar die Zukunft,“ David Laybourne, REAL Digital International Managing Director.

„Wann sind wir endlich da?“ – „Bald ...“ Wenn Sie Kinder haben, kennen Sie diese Frage nur zu gut, doch auch ich – als alter Hase in der Druckindustrie habe ihr mehr als oft genug gehört: Ist der Inkjet so weit? Noch nicht ganz, aber lange kann es nicht mehr dauern.“

Pioniervorteile
Einige Druckdienstleister sind bereits angekommen – und REAL Digital International im Süden von London ist ein Musterbeispiel. Sich mit Transaktions- und Mailing-Anwendungen die Flexibilität und Wirtschaftlichkeit des Inkjetdrucks erschließen – mit diesem Anspruch ist das Unternehmen 2004 an den Start gegangen. Zwei Single-Pass-Inkjetdrucksysteme verband es mit einem Bahntransportsystem zu einer richtungsweisenden 650-mm-Inkjet-Duplex-Produktionslinie in Vollfarbe, und als die Farbqualität hinter den Erwartungen anspruchsvoller Markenartikler zurückblieb, entwickelte REAL Digital International kurzerhand neue Papierbeschichtungen. Hinzu kommt eine umfassend automatisierte Weiterverarbeitung (Schneiden, Falzen, Zusammentragen, Kuvertieren ...). Das Ergebnis? Eine beispiellose Erfolgsgeschichte, von der zahlreiche Auszeichnungen (unter anderem „PrintWeek Company of the Year“) künden. 

Jüngster Neuzugang im gut aufgestellten Maschinenpark sind zwei Truepress Jet520-Duplex-Produktionslinien aus dem Hause Screen – doch auch dabei dürfte es nicht lange bleiben ... Mit den Worten von Geschäftsführer bei REAL Digital International David Laybourne: „Unser Erfolg hat einen Namen: Inkjet. Wendig und vielseitig agieren wir damit an der Spitze des Marktes – um neue Nachfragetrends nicht nur aufzugreifen, sondern von Anfang an mitzugestalten.“ Zumal das Verfahren zusehends an Reife gewinnt: „Fortschritte gibt es insbesondere bei den Tinten zu verzeichnen: Bei erweitertem Farbraum können wir mittlerweile die unterschiedlichsten Papiere ohne Vorbehandlung in Angriff nehmen.“

Moderate Tintenkosten – ein Schlüsselfaktor im Inket-Druck

Und da wären wir auch schon beim springenden Punkt: den Tintenkosten. Im Unterschied zum Markt für Druckfarben, auf dem sich zwar auch einige Maschinenhersteller, in erster Linie aber zahlreiche Spezialisten tummeln, wird das Angebot an Tinte klar von einer Seite dominiert: den Druckerherstellern. Dass diese versucht sind, über die Preisgestaltung in die eigene Tasche zu wirtschaften, liegt auf der Hand. Ähnlich verhält es sich bei weiteren Verbrauchsmaterialien, wie Druckköpfen oder Reinigungsmitteln. Das Fazit? So richtig zum Tragen kommen die Kostenvorteile des Inkjetdrucks, die in erster Linie auf einer schlankeren Druckvorstufe und einem geringeren Rüstaufwand beruhen, nur bei kleineren Stückzahlen. Je größer die Auflagen, je höher der Farbauftrag, desto attraktiver die konventionellen Druckverfahren – sei es im Akzidenz-, Verlags- oder Verpackungsdruck.

Substrate spielen ebenso eine Rolle

Eine andere klassische Hemmschwelle, vor allem beim kommerziellen Printverfahren, zur Inkjet Technologie überzugehen bestand darin speziell behandeltes Papier benutzten zu müssen und nicht auf glatte Oberflächen effektiv drucken zu können. Die neueste Generation von Inkjet Druckmaschinen schafft diese Nachteile aus der Welt. Peter Wolff, Leiter des kommerziellen Print Unternehmens Canon EMEA hebt hervor: „Noch einmal gänzlich neue Zielgruppen können wir nun mit der ImageStream-Serie ansprechen, die gestrichene Offsetpapiere mit unterschiedlichen Oberflächen (matt, seidenmatt, glänzend) anstandslos verarbeitet. Zahlreiche Akzidenz- und Verlagsdruckereien nutzen sie bereits für Kataloge, Zeitschriften und mehr. Ja zu Kleinauflagen und Individualisierung, nein zu teuren Spezialpapieren – so lassen sich die Vorteile auf den Punkt bringen.“ Die Flexibilität und Wirtschaftlichkeit des Digitaldrucks verbinden sich mit der Produktivität und Bildqualität des Offsetdrucks,“ Peter Wolff, Director Commercial Printing Canon EMEA

Und dennoch – eine der Bastionen des traditionellen Druckhandwerks hat Inkjet bereits kräftig ins Wanken gebracht: den Buchdruck. Neuauflagen vergriffener Titel, Selbstpublikation, häufige Aktualisierungen – Vorhang auf für Book-on-Demand! Gedruckt wird nur, was aktuell gefragt ist. Die Flexibilität des Inkjet ermöglicht es die Buchproduktion neu zu gestalten mit reduzierten Lager-, Vertriebs- und Finanzierungskosten, um so das verlegerische Risiko minimieren. Besonders attraktiv wird es, wenn automatisiertes Inline-Finishing ins Spiel kommt. Vom Druck über das Falzen und Zusammentragen zum fertig gebundenen Buchkörper – bereit zum Anbringen der Buchdecke und Endbeschnitt – geht es in einem einzigen rationellen Arbeitsgang. Formaten und Seitenzahlen sind praktisch keine Grenzen gesetzt, und zusehends wird nicht mehr nur in Schwarz-Weiß, sondern auch in Farbe gearbeitet.

Lässt sich dieses Erfolgsmodell auf weitere Hochburgen des konventionellen Drucks übertragen? Eins zu eins wohl leider nicht – zumal sich auch die großen Druckmaschinenbauer in Sachen Effizienzsteigerung einiges einfallen lassen. Gefragt sind „Querdenker“ unter den Druckdienstleistern – Unternehmen wie REAL Digital International, die Gewohntes hinterfragen, damit Inkjet zu seinen ureigenen Stärken auflaufen kann. Dann dürfte einer kreativeren, rentableren Zukunft nicht mehr viel im Wege stehen. 

Konkurrenz für den Offsetdruck

Beste Voraussetzungen dafür bieten Neuerungen der Hersteller: Mit einer offsetnahen Bildqualität punktet beispielsweise das 2014 eingeführte Ricoh Pro VC60000, ein High-Speed-Endlosdrucksystem in Vollfarbe. Von ersten Erfahrungen mit dem Arbeitstier berichtet Jukka Saariluoma, HansaPrint Business Unit Director in Finnland: „Inkjet als Ersatz für Offset? Bisher war das für mich bestenfalls Zukunftsmusik, doch das Pro VC60000 hat mich eines Besseren belehrt.“

„Bei einem Druckbild, das keine Wünsche offenlässt, begeistern sich unsere Kunden für unsere neu gewonnene Flexibilität und Schnelligkeit,“ Jukka Saariluoma, HansaPrint Business Unit Director.

Rund 70 Mio. Euro jährlich erwirtschaftet HansaPrint über ein denkbar breites Portfolio – von POS-Materialien über Direktmarketing hin zu Zeitschriften und Büchern.

Einigkeit herrscht derweil unter den Marktanalysten: Auch weiterhin stehen die Zeichen für Inkjet klar auf Wachstum. Von 23 auf 70 Mrd. Euro sieht beispielsweise Smithers Pira den weltweit im Inkjetdruck erwirtschafteten Umsatz (Druck- und Verpackungsindustrie) im Zeitraum 2010 bis 2020 in die Höhe schnellen, wobei die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate (CAGR) zwischen 2015 und 2020 mit 12,7 % veranschlagt wird. Untermauert werden solche Analysen von den Herstellern: Mit 100 Milliarden beziffert beispielsweise HP die Anzahl der Seiten, die seit 2009 allein auf seinen Inkjetdrucksystemen produziert wurden.

Digitaldruck ermöglicht neue Applikaionen

Doch muss es immer klassisch sein? Als einziges industrietaugliches Druckverfahren arbeitet Inkjet ohne Berührung des Substrats – und eignet sich damit für eine verblüffende Vielfalt starrer und flexibler Materialien nahezu jeder Form und Größe. Auf Textil ist das Verfahren ebenso zu Hause wie auf Glas, auf Keramikfliesen wie auf Kugelschreibern. Vom Industriedruck zu Verpackungen, vom Wohndekor zur Werbetechnik reichen die Zukunftsmärkte, die sich damit ins Visier nehmen lassen – zumal wenn Versionierung, Serialisierung und Individualisierung ins Spiel kommen.

„Inkjet stellt heute die bevorzugte Drucktechnik für Keramik und andere dekorative Materialien dar,“ John Harper Smith, Fujifilm Speciality Ink Systems Business Development Manager.

Auf diese Weise, öffnet Inkjet Türen zu verwandten Geschäftsfeldern, die sonst von den traditionnellen Druckherstellern weiterhin unbeachtet blieben. Paul Adriaensen, PR Manager bei Agfa Graphics fügt hinzu: „Zusehends verlagert sich das Hauptaugenmerk dabei von Kleinauflagen und Personalisierung zu dem, was für die direkte Konkurrenz zu konventionellen Maschinen erforderlich ist: einem höheren Durchsatz bei einem untadeligen Druckbild.“

„Hinzu kommt das Potenzial des berührungslosen Tintenauftrags, das in der Druckindustrie eine völlig neue Dynamik geschaffen hat,“ Paul Adriaensen, PR Manager Agfa Graphics.

Perfekt auf diese Vielfalt abgestimmt ist ein ständig wachsendes Angebot von Drucksystemen (vom Etiketten- zum XXL-Format, Flachbett, Rolle-zu-Rolle oder beides in einem), und kontinuierlich getüftelt wird an den Druckköpfen und Tintenrezepturen. In welchem Verfahren wohl die Stimmzettel für die diesjährige Präsidentschaftswahl in Nigeria gedruckt wurden? Inkjet – in Form von mehreren rasanten Produktionslinien aus dem Hause Canon. 

Blickpunkt Tinte

Bessere Verdruckbarkeit, höhere Farbbrillanz, erweiterter Farbraum, ökologisch nachhaltigere Inhaltsstoffe – in wohl kaum einem Bereich der Druckindustrie wird so intensiv geforscht wie bei Tinte. Das Resultat? Zusehends rückt die viel zitierte Offsetanmutung in die Reichweite des Inkjetdrucks – zumal im Zusammenspiel mit einem anspruchsvollen Farbmanagement und den immer zahlreicheren Inkjet-optimierten Papiersorten. Doch wer sind die Akteure, die hinter diesen Neuerungen stehen? In erster Linie die Hersteller der Drucksysteme oder ihre Lizenznehmer. Der Vorteil: perfekt eingespielte Systemlösungen aus einer Hand. Der Nachteil: mangelnder Wettbewerb, der sich in den bereits erwähnten überhöhten Preisen niederschlägt. Besonders ausgeprägt erscheint dieses Phänomen im mittleren bis oberen Marktsegment. Vereinfacht lässt sich sagen: Je leistungsstärker ein Drucksystem, desto seltener sind Anbieter von Alternativtinten anzutreffen. Muss das so bleiben? Innovationsstark über ein breites Spektrum von Rezepturen (wasser-, öl-, lösemittelbasiert) und Härtungsverfahren (UV, UV-LED, Elektronenstrahl) präsentiert sich Tintenhersteller Collins Inkjet aus Cincinatti (USA).

Collins Vice President Sales & Marketing. Chris Rogers gibt sich optimistisch: „Niedrige Verbrauchskosten führen zu Wachstum und erleichterter Umsetzung.“

„Wenn Kunden sich der Kosteneffizienz der leistungsstärkeren Inkjet Technologie bewusst werden, ist es leichter sich dem Wandel zu öffnen und den Übergang zu wagen,“ Chris Rogers, Collins Vice President Sales & Marketing.

„Seit mehr als 25 Jahren agieren wir erfolgreich mit einem schlanken, allein auf Tinte ausgerichteten Geschäftsmodell, das uns im Vergleich zu Druckerherstellern eine moderatere Preisgestaltung ermöglicht. Es liegt auf der Hand: Je attraktiver die Gesamtbetriebskosten einer Lösung, desto größer ihr Zuspruch bei Druckdienstleistern, die in aller Regel mit knappen Budgets zu kämpfen haben. Mit genau diesem Argument können wir immer mehr OEMs auf unsere Seite ziehen.“

Inkjet: von der Nische zum Massenmarkt

Ganz so neu wie gemeinhin angenommen ist die Idee, die hinter dem Inkjetdruck steht, nicht: Zwar soll Lord Kelvins Erfindung noch etwas unzuverlässig gewesen sein, doch Gleiches lässt sich von modernen Inkjetdrucksystemen ganz sicher nicht behaupten: Druckköpfe, Tinten, Substrate, Druckersoftware, Materialtransport und Härtungssysteme verbinden sich zu perfekt eingespielten Systemlösungen, an denen kontinuierlich weiter gefeilt wird – und der Wandel, der dadurch in der Druckindustrie ausgelöst wurde, hat gerade erst begonnen ... Relativ neu ist, dass sich Inkjet – fest etabliert in Nischenmärkten – zusehends auch im klassischen Auflagendruck breitmacht. Schon jetzt sind die Bastionen des Bogenoffset- und Schmalbahnflexodrucks ins Wanken geraten, und auch Anbieter von Rollenrotationen und größeren Flexodruckmaschinen sollten sich nicht allzu sicher wähnen ...

Bisweilen mag natürlich eine gewisse (oder sogar gehörige) Portion Hype ins Spiel kommen, doch kann die wachsende Schar von Druckdienstleistern, die mit dem Geldbeutel votieren, wirklich unrecht haben? Wirtschaftlichkeit, Bildqualität, Kundenanforderungen, Diversifikation – dies sind im Wesentlichen die Gründe, aus denen Druckdienstleister ihre Ausstattung überdenken. Inkjet punktet in allen vier Bereichen – was natürlich nicht heißen soll, dass es nichts mehr zu verbessern gäbe: Neue Anwendungen, attraktivere Gesamtbetriebskosten, gesteigerter Durchsatz – welche Trümpfe die Hersteller wohl für die drupa 2016 in petto haben? Man darf gespannt sein! 

Zum Autor

Mit seiner rund 30-jährigen Branchenerfahrung gilt Sean Smyth als ausgewiesener Kenner der Druckindustrie. Zahlreichen Druckdienstleistern und Verpackungs-herstellern hat er geholfen, den jeweils neuesten Stand der Technik in handfeste betriebswirtschaftliche Vorteile umzumünzen. 

Gegenwärtig agiert er nicht nur als Berater sondern auch als technischer Redakteur des derzeit boomenden Magazins Digital Labels & Packaging von Whitmar Publications. Seine Fachbeiträge sind regelmäßig in der europäischen und US-amerikanischen Fachpresse zu lesen. Als Referent ist er auf Branchen-veranstaltungen in aller Welt gefragt.

Er hat in leitenden Positionen bei vielen kleineren und größeren Unternehmen in der Druckbranche gearbeitet. Wie sich mit Hilfe des Digitaldrucks, guter MIS-Branchensoftware und Workflowlösungen Zeit- und Kosteneinsparungen für alle Wertschöpfungspartner realisieren lassen, weiß er aus langjähriger Anschauung.

Seit vielen Jahren befasst er sich mit dem Digitaldruck, und in zahlreichen Büchern und Marktanalysen (darunter „The Future of Inkjet Printing to 2019“ von Smithers Pira) hat er die Zukunft der Drucks unter die Lupe genommen. Derzeit ist er als nebenamtlicher Geschäftsführer bei mehreren britischen Druckunternehmen beschäftigt.

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