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Digitalisierung weitergedacht: Wir sind doch schon digital – oder?

Der Digitaldruck gehört zu den großen Gewinnern der Digitalisierung. Trotzdem tun sich viele Unternehmen heute schwer, den Weg konsequent weiterzugehen. Das hat Auswirkungen. Text: Sonja Angerer 

Digitalisierung weitergedacht: Wir sind doch schon  digital – oder?
Grafik: Prof. Dr. Karolin Frankenberger,  University of St. Gallen

Online-Einkauf, -Einkaufsagenturen und -Marktplätze haben die Preise kaputtgemacht!“ – diese Klage hört man häufig bei Mittelständlern. Im Digitaldruck-Bereich präzisiert man vielleicht noch mit „Online-Druckereien“. Doch ansonsten sind die Probleme ähnlich.

Was eigentlich erstaunt, denn der Digitaldruck war lange Zeit geradezu das Wunderkind der Digitalisierung. Schnell, unkonventionell und mithilfe der neuesten Technologien haben Digitaldruckereien „Dickschiffe“ unter den etablierten Druckhäusern zuerst abgehängt und dann nicht wenige von ihnen in die Bedeutungslosigkeit oder ganz aus dem Markt gedrängt. 

Es ist allerdings auch kein Geheimnis, dass vielen, gerade regionalen Digitaldruckern inzwischen ein ähnliches Schicksal droht. Einer der Gründe liegt in der fort­schreitenden Digitalisierung – konkret: der digitalen Transformation. Was aber bedeutet das im Einzelnen?

Digitalisierung heißt nicht Internet

Oberflächlich gesehen sind heute selbst die kleinsten Unternehmen in Zentraleuropa im digitalen Zeitalter angekommen: Sie nutzen Computer, oft auch Mobilgeräte in ihrer täglichen Arbeit, wickeln ihre Geschäftskorrespondenz per Mail oder sogar in Messenger-Diensten ab. Sie unterhalten Homepages, Blogs und Social-Media-Profile. Sie verkaufen ihre Produkte über offene und geschlossene Webshops, und manchmal sogar über Ebay oder Facebook. Digitalisierte und automatisierte Workflows werden in der grafischen Industrie immer beliebter. Also alles im grünen Bereich? 

 „Digitale Transformation heißt nicht Digitalisierung von Prozessen. Digitale Transformation heißt nicht Digitalisierung von Produkten. Digitale Transformation heißt nicht die Anwendung von Technologien“, betont beispielsweise Prof. Dr. Karolin Frankenberger. Sie forscht an der University of St. Gallen zum Thema Digitalisierung und hielt Mitte August 2018 ein Alumni-Webinar zum Thema.

„Digitale Trans­formation bedeutet, das ganze Unternehmen muss transformiert werden.“ Das greift an die Grundfesten, denn es bedeutet, dass komplett andere Wertschöpfungsketten aufgebaut werden müssen, mit denen auch anders Geld verdient wird – ein radikaler Wandel für Industrie und Gewerbe.

 Plattform vor Produkt

In den letzten Jahren haben große Technologieunter­nehmen massiv darin investiert, zu Plattformanbietern zu werden. Sie haben sich damit also zwischen den Kunden und seinen Lieferanten geschoben. Das kann dramatischere Auswirkungen haben, als es zunächst erscheint. Amazon etwa bietet heute neben Konsumgütern und vielen anderen digitalen Services mit „Kindle Unlimited“ E-Books als Flatrate-Abo an. 

Da wird der Verlag zum reinen „Rohstoff-Lieferanten“. Selbst an Fans eines Autors kann der Verlag kaum mehr selbst vermarkten. Denn die App schlägt den nächsten Lesestoff schon proaktiv vor, sobald das E-Book ausgelesen ist. Das kann sie, weil Amazon als Plattformanbieter über die gesamte Bestellhistorie seines (!) Kunden verfügt. Dass der Druck des Buches bei diesem Vertriebsmodell völlig außen vor bleibt, ist dabei nur ein Nebenschauplatz. 

Doch selbst dort, wo gedruckt wird, werden Plattformen immer wichtiger. Modelle wie Spreadshirt oder Amazon Merch schaffen einen zentralen Marktplatz für Textilien mit gedruckten oder geplotteten Motiven. Auf den Web-Portalen können Marken, aber auch einzelne Kreative ihre Motive hinterlegen. Die Produktion des bestellten Kleidungsstücks erfolgt erst dann, wenn ein Endkunde dieses bestellt – und vorab bezahlt!

Die eigentliche Herstellung muss den Konsumenten nicht kümmern. Die einzige Marke, mit der er in Be­rührung kommt, ist die der Plattform. Dem Ersteller des Designs bleibt nur ein relativ kleiner Anteil am Verkaufspreis für das Nutzungsrecht seiner Kreation. Der eigentliche Hersteller des Produktes, also etwa das Textildruckhaus, ist austauschbar.

Fairerweise muss man allerdings auch mit in Betracht ziehen, dass viele Plattformen auch etwa das gesamte Rechnungswesen sowie Reklamations-Management übernehmen. Für Kreative, die ohne großes Eigenkapital einen Online-Shop eröffnen wollen, ist ein solches Modell also unter Umständen durchaus vorteilhaft. Auch der Endkunde schätzt zumeist den zentralen Marktplatz sowie den unkomplizierten Service.  

Plattformen finanzieren

Neue Plattformen stehen immer unter dem Druck, möglichst schnell Nutzer zu generieren und zum „Platzhirsch“ zu werden. Denn die digitale Ökonomie ist unerbittlich: Kleinere Konkurrenten werden aufgekauft oder gleich aus dem Markt gedrängt. Es hilft es natürlich beim Etablieren einer neuen Plattform, wenn die Zielgruppe mit den bestehenden Optionen unzufrieden und damit wechselwillig ist. Die Taxibranche etwa kann ein Lied davon singen: Lyft und Uber, obwohl nicht unumstritten, erfüllen den Bedarf des Endkunden nach sauberen, günstigen und zuverlässig per App steuer­baren Transportmöglichkeiten.

Aber auch viele Druckereien und Werbetechniker sollten darüber nachdenken, warum Online-Druckereien in den letzten Jahren bei Konsumenten, Kleingewerbe und gestandenen Mittelständlern so beliebt geworden sind. Der Preis spielt hier sicherlich eine Rolle, doch Service, Verfügbarkeit und nicht zuletzt die Produktqualität dürften entscheidend dazu beigetragen haben. 

 Um eine Plattform zu etablieren, muss heute zumeist viel Geld investiert werden. Hinzu kommen die Kosten der Umstrukturierung eines bestehenden Unternehmens – die „digitale Transformation“ eben. Prof. Dr. Frankenberger schlägt deshalb vor, disruptive Geschäftsideen parallel zu bestehenden Geschäftszweigen aufzubauen, quasi als „Start-up innerhalb des Unternehmens“.

Die Wachstumskurven der etablierten sowie der neu ent­stehenden Wertschöpfungskette können so neben­einander gepflegt werden, bis schließlich der Übergang zum neuen Geschäftsmodell relativ sanft erfolgen kann. Sinnvollerweise sind zu diesem Zeitpunkt bereits weitere, neue Wertschöpfungsmodelle in Arbeit. Denn selbst die innovativste Idee ist in den Augen der Kunden irgendwann relativ „kalter Kaffee“: Ebay lässt grüßen. 

Eine Reihe von größeren mittelständischen Unternehmen unterhält bereits feste Strukturen zum Erkennen und zum Aufbau neuer Geschäftsideen. Für Digitaldruckereien, die zumeist eher unter 100 Mitarbeiter haben, dürfte dies schwieriger zu bewerkstelligen sein.

Zumal das Management etablierter Wertschöpfungsketten deutlich anders ausfallen muss, als beim Ausprobieren von neuen Geschäftsmodellen: Hier beispielsweise Wert- und Zielorientierung, dort eine ausgeprägte Spiel- und Fehlerkultur. Gleichzeitig darf nicht der Eindruck aufkommen, eine Seite würde bevorzugt. Denn sonst besteht die Gefahr, dass gerade in kleineren Unternehmen nicht mehr an einem Strang gezogen wird. 

Nun ist nichts so billig, und gleichzeitig so teuer, wie eine gute Idee. Tatsächlich, so Prof. Dr. Frankenberger, hat die Forschung gezeigt, dass über 90 % der ertragreichsten neuen Geschäftsideen eigentlich eine Rekombination oder gar eine bloße Übertragung von bereits in anderen Branchen funktionierenden Modellen sind. „Geschäftsmodellinnovation bedeutet, mindestens zwei der vier Dimensionen zu verändern“, erklärt Prof. Dr. Frankenberger.

„Produkt sehr günstig, Verbrauchsmaterial teuer“ gibt es beispielsweise nicht nur bei (Büro-)Druckern, sondern etwa auch bei Rasierern oder Kaffeemaschinen. Denn natürlich muss jede Geschäftsidee nicht nur für den Kunden einen echten Nutzen bringen, sondern dem Unternehmen auch eine längerfristig solide Ertragsbasis. In den USA etwa kämpft gerade der von Nutzern geschätzte Dienst Moviepass ums Überleben. Denn eine Kino-Flatrate lässt sich eben doch nicht so ganz einfach refinanzieren. 

Wie Digitale Transformation gelingen kann

Digitale Transformation ist nicht einfach. Die Forschung zeigt, dass 84 % der Versuche zur digitalen Trans­formation zunächst scheitern. Hauptursache sind mit 
weitem Abstand die Widerstände der Mitarbeiter gegen die Veränderung, relativ eng gefolgt von unzureichender Unterstützung durch die oberste Führungsebene: Weiche Faktoren sind also die wichtigste Zutat für eine erfolgreiche digitale Transformation.

Das gilt auch – und besonders für die (Digital-)Druck-Branche. Womöglich muss es hier mit der Transformation sogar noch ein bisschen schneller gehen als in andern Branchen. Denn der Trend zu elektronischen Medien sowie der bereits erkennbare Fachkräftemangel machen der Branche zusätzlich zu schaffen. 

Innovation à la Carte

Im Rahmen ihrer Aus- und Fortbildungslehrgänge für Fach- und Führungskräfte hat die Universität St. Gallen Modelle und Tools entwickelt, die die Unter­suchung und Weiterentwicklung von Geschäftsmodellen erleichtern. So gibt es etwa 55 Musterkarten, die bei der Rekombination helfen. 

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